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Abenteuer Lastenfahrrad

Erfahrungsbericht im Projekt „Mentoringprogramm in Reinickendorf“

11.10.2020

Ahmad (Name geändert) besaß, als ich ihn im Herbst 2019 kennenlernte, kein Rad bzw. konnte nicht radfahren, weswegen wir ausschließlich zu Fuß und per ÖPNV unterwegs waren. Sein Ehrgeiz, Fahrrad fahren zu können, hatte anscheinend durch einen Sturz mit 6 Jahren einen Dämpfer bekommen. Als Alternative zum ewigen zu Fuß gehen (für mich) und potenziellen Ansporn (für ihn) hatte ich ihm daher in Aussicht gestellt, eines Tages ein Transportfahrrad zu mieten, ihn dort hineinzusetzen und einen Ausflug mit Picknick zu machen. Erschwankte zwischen Angst und großer Vorfreude. Nun war es soweit, für einen Samstag im Juni 2020 hatte ich ein Lastenfahrrad bei Allatur in Reinickendorf vorbestellt, meine Patentochter war überraschend in Berlin zu Besuch und begleitete mich auf einem Leihfahrrad, und auch der ältere Bruder von Ahmad, war eingeladen, mit uns gemeinsam jene Fahrradtour mit Picknick zu machen …

Wir trafen uns auf dem Parkplatz von Alnatura, wo ich die Jungs gespannt mit dem Las-
tenfahrrad „Margot“ erwartete. Womit ich nicht gerechnet hatte, war, dass a) Ahmad’s Bruder gar nicht Fahrradfahren konnte und b) Ahmad selber sich – angesichts eines schwankenden Kastens ohne „Tür zum Einsteigen“ – weigern würde, dort einzusteigen („Ich habe keine Angst!“). Da war absolut nichts zu machen, er wollte nicht hinein! Mir wurde erst in diesem Moment klar, dass ich ihn anscheinend klar überschätzt und überfordert hatte … Also habe ich schweren Herzens umdisponiert: wir haben Lastenfahrrad und die anderen Räder bis zu einem nahe gelegenen kleinen Park geschoben und dort erst einmal das Picknick
zelebriert. Dann habe ich Ahmad alleine zur Seite genommen und das Fahrrad neben eine Parkbank geschoben und geparkt, wo es dann fest und sicher stand. Mit Engelszungen konnte ich erreichen, dass Ahmad das gesamte Rad quasi von allen Seiten „beschnüffelte“, testete („versuch‘ mal, es umzuwerfen!“) und dann auch sogar schon von der Bank aus ein Bein hineinsetzte. Immer unter dem Versprechen, dass wir nicht fahren würden, dass er nur mal das Gleichgewicht prüfen könne. Seine Aufregung war groß, er traute der Sache nicht und musste jeden einzelnen Schritt mehrfach üben (auf die Parkbank steigen, von dort mit einem Bein in die Kiste, mit beiden Händen festhalten, mittig hinstellen). Erst mit viel Zureden und Beruhigung („wir fahren heute nicht mehr“, „heute habe ich keine Lust mehr, eine ganze Tour zu machen“) wagte er es letztendlich, sich auch einmal im Kasten hinzusetzen.

Nach insgesamt fast 1 1/2 Stunden „Annäherung“ schlug er dann selbst vor, probehalber
von der einen zur nächsten Parkbank zu fahren („wir tun so, als wäre das eine Taxi-Stel-
le!“)! Und erst als er wusste, dass ich auf seine Ansage hin wirklich anhalte und ihn theo-
retisch auch aussteigen lassen würde, konnte er sich auch weiterfahren lassen. Am Ende, als die beiden anderen sich schon furchtbar langweilten, fuhren wir in dem Park viele Runden im Kreis, Ahmad freute sich unsäglich, dass er so mutig gewesen war, es auszuprobieren („Weißt Du, am Anfang hatte ich Angst, und dann – dann habe ich mich DOCH getraut! Und das nächste Mal müssen wir einen Ausflug mit Picknick machen!“).
Für ihn war es eine große Erfahrung, aus seiner anfänglichen Angst tatsächlich mit einer
neuen Fähigkeit herausgekommen zu sein – und ich war komplett erschöpft und aber
auch glücklich über seine Freude – und ich habe ein bisschen besser verstanden, dass ich ihn dort „abholen muss“, wo er wirklich ist (und nicht, wo ich ihn schon gerne hätte!)! Andererseits haben wir beide gelernt, dass wir auch neue, anfangs vielleicht beängstigende Herausforderungen, ganz gut zusammen hinkriegen, und dass es für ihn gut ist, sich selbst die Latte manchmal ein bisschen höher zu legen und aus der Komfort-Zone herauszukommen.

Zu dem nächsten Mal ist es im Übrigen dann gar nicht gekommen, denn mittlerweile
hat Ahmad ein eigenes Fahrrad und kann selbst Fahrradfahren – vergangenen Montag hat er in der Schule seine Fahrradprüfung bestanden …

Das Tandem bei der Fahrrad-Werkstatt